– Mit Mario Hiriart den Alltag gestalten –
Stellvertretend für den Freund
Ein junger Mann aus Santiago de Chile hat die Chance, seine berufliche
Laufbahn in den USA fortzusetzen. Kurz darauf muss seine Mutter ins Krankenhaus.
Die Kommunikationsmittel sind zu diesem Zeitpunkt – Mitte der 50iger
Jahre – noch dürftig – E-mail und Bildtelefon noch nicht
einmal Zukunftsmusik. Der Freund und Gruppenkamerad, Mario Hiriart, besucht
die Kranke täglich im Hospital. „Ich komme stellvertretend, weil
Ihr Sohn im Ausland ist,“ erklärt er mit der größten
Selbstverständlichkeit. Und das, obwohl Mario selbst viel zu tun hat
und die Besuche in dem Verkehrschaos Santiago sehr zeitaufwendig sind....
Mir kommt in den Sinn, dass ich noch vor kurzem einen Krankenbesuch aus
Zeitmangel verschoben habe. Ich versuche, mich ein wenig in die Haltung Marios
einzufühlen, und es kommen die verschiedensten Bilder hoch:
In Studium und Beruf
Der Mann, den sehr viele in seinem Büro besuchen, um ihn um Rat zu fragen – auch
Kollegen, die mit Kirche und Religion nicht mehr viel zu tun hatten. Mario,
der auf eine steile Karriere und einen hochdotierten Posten in einem Unternehmen
verzichtet, um sich in der Universität ganz in den Dienst der Studenten
zu stellen und ihnen noch etwas mehr mitzugeben als rein theoretisches Wissen.
Der Ingenieur, der so tief in der Welt Schönstatts zu Hause ist und gleichzeitig
seinen Beruf als erstes Feld persönlicher Verantwortung nicht nur sehr
ernst nimmt, sondern sich ständig um Vertiefung und Weiterbildung bemüht.
Seine Studienkollegen erzählen, dass er während der Studienzeit von
den Vorlesungen immer die umfassendsten Notizen gemacht habe. Er stellt sie
ausnahmslos allen zur Verfügung, die ihn darum bitten. Darüber regen
sich manche Mitstudenten auf, meinen sie doch, der oder jener hätte es
nicht verdient, schließlich hätte er sich in der freien Zeit nicht
um den Studiumsstoff gekümmert. Mario rechnet nicht so; für ihn sind
alle gleich.
Seine Konsequenz und Gradlinigkeit erschöpft sich darin allerdings noch
längst nicht. So wie er im Universitätsdienst gleich eine Bücherbank
einrichtet, um Studenten mit weniger Geld den Studiumsstoff zugänglich
zu machen, so hat er auch Geduld und Wohlwollen, bei Prüfungen wirklich
alles Wissen eines Kandidaten ans Licht zu holen. Einmal ist ein Prüfling
derart nervös, dass er die Prüfung unterbricht und den Studenten
einlädt, eine Cola mit ihm trinken zu gehen. Danach kann der sichtlich
ruhiger gewordene Mann die Prüfung mit Erfolg fortsetzen. Der ein oder
andere Schönstätter kommt schon mal in der Hoffnung, Mario würde
Konzessionen machen, weil man den Studiumsstoff wegen Schönstattaktivitäten
nicht genügend durchgearbeitet hatte. Da wird Mario ziemlich ärgerlich,
als Schönstätter habe man die Pflicht besonders verantwortungsbewusst
und zielstrebig in Studium und Beruf zu sein.
Kraftquelle Heiligtum
Gerade letzteres hat mich schon oft davon abgehalten, mir selbst eine
Ausrede zugestatten. Für Mario war das gute Erfüllen der Berufspflichten
das erste Apostolatsfeld. Deswegen ist sein Einsatz für Schönstatt
keineswegs lasch oder halbherzig. So betreut er z.B. regelmäßig
Gruppen in Quillota und Viña del Mar (ca. 100 km von seinem Wohnort
entfernt) und übernachtet dort unter oft unkomfortablen Umständen.
Bei diesen Gelegenheiten kommt er gegen 23.00 am Sonntagabend zurück,
steht aber am nächsten Morgen selbstverständlich zu den Vorlesungen
zur Verfügung, um dann im Anschluss die damals recht lange Fahrt zur
Messe nach Bellavista zu unternehmen. Keine Pause – und doch nicht
ausgebrannt? Mario lädt die Batterien im Heiligtum wieder auf. Hier
ist seine persönliche Kraftquelle, hierhin bringt er alle Erlebnisse
und hält sie in den Dialog mit der Gottesmutter hinein. Durch dieses
Gespräch mit ihr kann er abgeben und loslassen. In der Kraft des Liebesbündnisses,
das für ihn eine existenzielle Realität wird, verwandelt sich etwas
in ihm. Persönliche Kontakte sind ihm besonders wichtig – und
er pflegt sie mit Zuverlässigkeit. Kein Geburtstag seiner Freunde und
Bekannten ohne schriftlichen Gruß von ihm, Geschenk oder Besuch. Daran
hält er auch gegenüber solchen fest, die längere Zeit im Ausland
sind, etwa gegenüber dem jungen Mann, der einige Jahre in den USA verbringt.
In seiner eigenen Formungs- und Schulungszeit in Brasilien vergisst er keinen
seiner Freunde und hält die Kontakte aufrecht.. Während Mario Marienbruder
wird, heiraten viele seiner Gruppenkameraden. Er kennt deren Kinder alle
mit Namen, spielt mit ihnen, freut sich am Familienleben. Dabei ist er selbst äußerlich
sehr einsam. In ganz Chile hat Mario keinen Mitbruder. Nicht allzu oft kann
er zu nächsten Filiale seiner Gemeinschaft nach Südbrasilien reisen.
Weihnachten allein – ohne Gesellschaft anderer Mitglieder seiner Marienbrüderfamilie – Schönstätter
aus anderen Gemeinschaften bedauern ihn heimlich. Für Mario wird diese
Situation zu einer Möglichkeit, die geistige Verbundenheit zu seinen
Mitbrüdern zu vertiefen. Die Einsamkeit wird zum Prüfstand für
seine Laiensendung und die Erfahrung der Tragfähigkeit des Netzes von
Bindungen. Er teilt seine Erfahrungen in Tagebuch und Briefen mit. Durch
die Einsamkeit entsteht gleichzeitig ein positiver Impuls, der Marios Verbindung
zur Gottesmutter vertieft. Keine Kompensation, keine imaginären Gespräche,
sondern die restlose Überzeugung, dass Maria im Heiligtum immer real
erreichbar ist und ein ganz konkretes Gegenüber.
„Seine Madrecita“
Übereinstimmend erwähnen viele Zeitzeugen sein strahlendes Lächeln,
das von innen kam. Woher nimmt der Mann diese Kraft? Er ist kein Illusionist
oder Phantast, der es sich leicht macht und sich vom Strohfeuer irgendwelcher
mitreißender Emotionen leiten lässt. So wie er in seinem Beruf grundlegend
und gründlich zu planen gewohnt ist, nichts dem Zufall überlässt,
so hängt auch seine Freude nicht irgendwo im luftleeren Raum. Er ist gewohnt,
Dinge auf den Punkt zu bringen, sie prinzipiell zu bedenken und in große
Zusammenhänge zu stellen. Er macht es sich nicht leicht – doch dieser
Weg führt ihn zu größerer innerer Klarheit und Ausgeglichenheit.
Und wieder ist es die Kraft des Liebesbündnisses, die ergänzt, was
ihm an Ausgewogenheit fehlt. Er erfährt als Frucht des Liebesbündnisses
eine innere Freude am Geliebtsein durch „seine Madrecita“, wie er
die Gottesmutter liebevoll nennt. Diese Freude lässt sich nicht zurückhalten,
sie strahlt aus – findet ihren körperlichen Ausdruck.
Marios starke Beziehung zur Gottesmutter hat keinen exklusiven Charakter,
sondern schließt alle und alles ein. Das äußert sich auch
in der Qualität seiner mitmenschlichen Beziehungen. Ein Kommunist erwähnt,
dass er sich mit Mario besonders gut unterhalten kann, auch wenn die Ansichten
grundverschieden sind. Mario hat Respekt vor der Andersartigkeit und versucht
niemals jemanden gewaltsam zu überzeugen. Er ist auch keineswegs einseitig
orientiert. Er kennt die aktuellen Probleme seiner Zeit, die politischen Tendenzen
und Entwicklungen, liest gerne und viel, nicht nur verschiedene Zeitschriften,
sondern sehr gerne gute Literatur. Für einen besonderen Film geht er auch
schon mal ins Kino.
Breites Interessenspektrum
Müssen solche Menschen, die den „Ruf der Heiligkeit“ haben,
als ernst, trocken und seriös eingestuft werden, sogar weltfremd und weit
weg vom Leben? Gerade die geringe zeitliche Distanz zu seinem Tod, gibt uns
die Möglichkeit, Marios Charakterzüge und Eigenschaften ziemlich
genau und originalgetreu nachzuzeichnen. Mario ist ein zutiefst froher Mensch,
der gerne singt und Gitarre spielt. Ob Folklore oder klassische Musik, er hat
ein breit gefächertes musikalisches Interesse und kann die Musik richtig
genießen, ebenso wie ein gutes Gedicht oder Malerei. Seine Mitbrüder
verweisen gerne darauf, dass Mario oft durch den einen oder anderen Witz zur
Auflockerung der Gemeinschaft beiträgt. Dass dabei Mario gleichzeitig
lernen muss, seinen Stolz zu überwinden, weil er nicht gerne deutsch spricht
aus der Angst, Fehler zu machen, ist den Mitbrüdern selten bewusst.
Ich denke manchmal, dass uns Mario von den Verhältnissen her näher
sein kann, als mancher Heilige des Mittelalters. Er lebt wie viele von uns
mitten in der Stadt, hat den Stress von Verkehrsstaus oder des verpassten Busses,
benutzt wie wir Telefon und Post, einige Male bedient er sich des Tonbandes – ich
bin sicher, dass er sich heute mit Computer und Camcorder in gleicher Weise
auseinandersetzen würde, um sie als Mittel der Kommunikation sinnvoll
einzusetzen. An einem Beispiel wird mir diese zeitliche Nähe bewusst:
Mario steigt in einen Linienbus ein, der gerade anfährt und die Türen
schließt, als ein Priester ebenfalls versucht, noch einzusteigen. Letzterer
beschwert sich anschließend unter Hinweis auf die Gefahren mit deutlichen
Worten beim Fahrer über dessen unvorsichtiges Verhalten. Danach setzt
er sich zufrieden neben Mario. Dem Fahrer hätte er jetzt aber deutlichst
Bescheid gesagt, erklärt er dem Marienbruder. Dieser erwidert, dass es
sicher ein Fehler war, aber man möge doch auch mal an den Fahrer denken,
von dem vieles gleichzeitig verlangt wird und der vielleicht auch ein wenig
müde ist... Der betroffene Priester selbst erzählt diese kleine Begebenheit
und wie sehr ihn Marios Verhalten beeindruckt hat. Ich muss zugeben, dass mir
diese Geschichte öfters dann einfällt, wenn ich mich selbst über
eine Sache beschweren will – und sie ist mir Anlass, erst noch mal die
Gründe für das Verhalten des Gegenübers zu hinterfragen.
Offen für die Mitmenschen
Mario stellt sich in seiner freien Zeit ganz der Schönstattbewegung zur
Verfügung. Besonders an Sonntagen – wenn nicht auf Reisen zu einer
der Gruppen – ist er in Bellavista für jeden da. Mario wirkt nicht
auf Anhieb und auf den ersten Blick attraktiv, aber wer erst mal den Wert der
Beziehung zu ihm erkannt hat, der sucht ihn immer wieder gerne auf. Sein schlechter
Gesundheitszustand, für den bis kurz vor seinem Tod keine eigentliche
Ursache diagnostiziert werden kann, hält ihn nicht davon ab, sich ganz
in den Dienst für andere zu stellen. Missachtet Mario die Warnsignale
seines Körpers? Keineswegs – keiner der aufgesuchten Mediziner findet
den eigentlichen Grund für seine großen Magenprobleme und den sehr
schwachen Allgemeinzustand. Und weil Mario keine Kenntnis von seiner Krebserkrankung
hat, tut er alles noch in seiner Kraft stehende, um sich in den Dienst der
Schönstattfamilie zu stellen. Was es für einen derart Kranken bedeutet,
in einem Zeltlager, in dem die Küche nicht gerade das Paradestück
ist, keine Ausnahme beim Essen zu fordern, wird mir bewusst, wenn ich schon
mal geneigt bin, etwas als ungenießbar zurückzuschieben oder die
Nase deutlich sichtbar zu rümpfen...
Er ist kein Typ, der sehr häufig von sich aus aktiv wird, das gehört
nicht zu seinen Charakterzügen. Aber wo es nötig ist, sagt er klar
und deutlich seine Meinung, wobei er darauf achtet, möglichst niemanden
zu verletzen. Auch bei seinen Entscheidungen klärt er zuvor häufig
viele Fragen ab. Nicht etwa aus Entscheidungsunfähigkeit, sondern weil
er niemandem weh tun will. Hier ist die Ehrfurcht vor dem anderen der Hintergrund.
Mario hat einen Drang zur Tiefe, so wie er äußere Geschehnisse nach
Hinweisen auf das Handeln Gottes abklopft, so hinterfragt er auch die Gegebenheiten
nach letzten Prinzipien, d.h. nach dem Liebesplan Gottes. In dieser Weise werden
dieses Suchen und Fragen, Antworten entdecken, Wege, die sich neu eröffnen,
zu einer Art „Liebesspiel“ zwischen ihm und dem himmlischen Vater.
Sie lassen aus dem einstmals etwas starren, behäbigen und unflexiblen
Jugendlichen einen bereiten, geöffneten jungen Mann werden, für den
der Himmel genauso real ist wie die Erde und der ganz aus dieser sich gegenseitig
bedingenden Realität lebt.
Das Ohr am Herzen des Gründers
„Er hat das Ohr am Herzen des Gründers“, erzählt einer
seiner Mitbrüder. Ich muss daran denken, dass Mario ja unseren Vater und
Gründer gar nicht so oft gesehen hat. Zwar hört er bis 1952 ein paar
Vorträge von ihm und hat dann in den letzten vier Wochen in Milwaukee einige
Male Gelegenheit zum persönlichen Gespräch gehabt. Wer gründlicher
nachprüft, der spürt schnell, Mario hat sich nicht nur mit der Lektüre
und den Vorträgen Pater Kentenichs auseinandergesetzt, sondern der Gründer
ist ihm persönlich zum Vater geworden, an dem er sich ganz orientiert hat.
Und dies, obwohl er P. Kentenich über so viele Jahre nicht sehen und erleben
konnte. Hat Mario da nicht vieles mit uns gemeinsam? Wir können unseren
Vater und Gründer ebenfalls nicht in seiner tatsächlichen irdischen
Wirkweise erleben, aber ihm in Wort und Werk und in seinen Transparenten erspüren
und erfahren. Vielleicht lohnt es sich, mit Mario und wie er das innere Hören
auf den Vater der Schönstattfamilie auszurichten!
Spannungsfeld Erde und Himmel
Zeitlebens, so schreibt jemand, der Mario gut gekannt hat, suchte Mario
Erde und Himmel miteinander zu verbinden. Tatsächlich spricht er selbst
in seinem Tagebuch öfter davon, dass sein Leben von dem Spannungsfeld
zwischen Natur und Übernatur geprägt ist, wobei er manchmal meint,
er sei zu stark erdgebunden. Bei seiner Analyse von Charaktereigenschaften,
Tendenzen und auch Schwachheitserlebnissen äußert er den Wunsch: „Ich
möchte ein lebendiger Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde werden!“ Ganz
klar sagt er aber auch, dass dabei kein Pol zugunsten des anderen zu kurz
kommen darf. Also doch ein bisschen mehr Erde, aber keineswegs weniger Himmel!
Ingrid Springer